Spektakuläre Ruine
Wo andere den Blick auf die Mauer erweiterten, um sie im Zusammenhang mit ihrer Konservierung und der Erinnerung zu sehen, nähert sich Alessandro Vicario im Gegensatz so dicht wie möglich der Oberfläche des Stahlbetons und betrachtet sie auf der Suche nach Zeichen, Andeutungen und Symbolen, wie eine Haut aus nächster Nähe. Das Ergebnis überrascht, denn die vielen Fotoplatten sind so zu Etappen eines Pfads geworden, der sich über Verwunderung schlängelt bis hin zur Entdeckung einer kaum bekannten Welt, die doch jeder direkt vor Augen hatte. Wie etwa bei einem in der Mauer eingeschlagenen Nagel, aus dem der Rost trieft wie eine Farbspur. Man ahnt die Umrisse eines Bildes, während die Farbe, die langsam in tausend azurblauen Fragmenten abblättert, uns in der übriggebliebenen Form vielleicht ein Profil, einen Gesichtsausdruck, ein Frauengesicht wiedererkennen lässt. Zeit wird sichtbar in den Bildern Vicarios. Der Beton ist kein untätiger Stoff wie wir ihn uns vorgestellt haben: auf der Oberfläche erscheinen die Porosität, entstanden nach vielen Jahren in Wind und Wetter, Flächen, wo die Farbe homogen wirkt und einfarbige Blöcke erzeugt, sowie die Ausbesserungen, die alles wieder glatt, sauber, grau und anonym machen, wie die Graffitikünstler die Mauer einst angetroffen haben.
Roberto Mutti (Auszug aus dem Katalog)